Glossar
Das Glossar gibt einen Überblick über wichtige Begriffe, Personen, Materialien, Themen, Konzepte und Projekte, die für das Verständnis der Multiples und ihrer Rolle im Werk von Joseph Beuys hilfreich sind.
Das Glossar gibt einen Überblick über wichtige Begriffe, Personen, Materialien, Themen, Konzepte und Projekte, die für das Verständnis der Multiples und ihrer Rolle im Werk von Joseph Beuys hilfreich sind.
Als Braunkreuz bezeichnete Beuys die braune Farbe, die er seit den frühen 1950er Jahren in vielen Arbeiten verwendete.1 Häufig benutzte er sie für ein Kreuz, letztlich konnte damit aber jede Form gestaltet werden und behielt dennoch den Namen Braunkreuz. Beuys verknüpfte mit diesem Braun die Vorstellung von Erde und Blut, also von Lebensenergie.2 Dies und die mit dem Kreuz verbundenen Assoziationen von Rettung und Hilfe geben dem Braunkreuz eine Heilfunktion, die in verschiedenen Multiples der späten 1960er und frühen 1970er Jahre deutlich wird, die mit dem Braunkreuz gestempelt sind, etwa Schlitten (1969) oder Celtic + ∿∿∿∿ (1971). Der Stempel, der Beuys’ Nachnamen in Druckbuchstaben mit einem kleinen gleichseitigen Kreuz verbindet, verdeutlicht Beuys’ Intention, Kunst als Mittel zur Heilung und als Impuls für geistige Prozesse einzusetzen.
Martin Kunz, „Christus, Kreuz und Braunkreuz“, in: Joseph Beuys: Spuren in Italien, Luzern 1979, o. S. ↩
So zusammengefasst in Jörg Schellmann (Hrsg.), Joseph Beuys. Die Multiples, München, New York 1997, S. 428. Für weitere Bedeutungen, die das Braunkreuz für Beuys hatte, siehe Klaus-D. Pohl, „Farbe“, in: Joseph Beuys. Die Materialien und ihre Botschaft, Stiftung Schloss Moyland, Sammlung van der Grinten, Joseph Beuys Archiv des Landes Nordrhein-Westfalen, Bedburg–Hau 2006, S. 64–65. Siehe auch Beuys’ Kommentare in: „Joseph Beuys. Gute Cascadeure sind sehr gesucht“, in Joseph Beuys: Zeichnungen, Objekte, Kunstverein Bremerhaven, Bremerhaven 1978, S. 8–9. ↩
Im Laufe der 1960er Jahre entwickelte Beuys anhand verschiedener Gegensatzpaare seine plastische Theorie, die sich gegen einen statischen Kunstbegriff richtete.1 Im Mittelpunkt steht der Kontrast zwischen starren, geometrischen – Beuys nennt sie kristallin – und weicheren, organischen Formen. Damit verknüpft sind zahlreiche weitere einander entgegengesetzte Zustandsformen – etwa Ordnung und Chaos, Stillstand und Bewegung, Kälte und Wärme, Konzentration und Ausdehnung.2 Die jeweils ersten beschreiben Struktur und Stabilität, die zweiten stehen für Veränderung und Entwicklung – und damit für jene Prozesse, die Beuys mit seiner Kunst in Gang setzen wollte. Dementsprechend konzentrierte er sich in seinen Arbeiten vorwiegend auf veränderbare organische Formen, die in elastischen Substanzen wie Fett, Filz und Honig zum Ausdruck kommen. Doch auch auf kristalline Strukturen verzichtet Beuys keineswegs. Ihnen kommt in Form von Stahl oder Eisen stabilisierende Funktion zu, durch die den kreativen Prozessen Dauerhaftigkeit verliehen wird.
Diese Substanzen und ihre zugehörigen Aggregatsformen verknüpfte Beuys mit verschiedenen Themenkomplexen – mit konkreten Erfahrungen von Menschen, mit dem Verhältnis zwischen Geist und Materie und dem gesellschaftlichen Wandel. Kristalline Formen und starre Materialien repräsentieren hier beispielsweise den Intellekt, deren Gegenteil die Intuition. Beuys war der Ansicht, dass die Überbewertung intellektueller Fähigkeiten zu einer starren, materialistisch ausgerichteten Gesellschaftsstruktur geführt hatte. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wollte er die ursprünglichen kreativen Fähigkeiten der Intuition nutzbar machen. Damit war nicht gemeint, dass Vernunft und Intellekt plötzlich abgeschafft werden sollten. Beuys strebte vielmehr den Ausgleich dieser Kräfte an, sodass die Stärken beider kombiniert werden und zu einer positiven Verbindung zwischen Geist und Materie, Vernunft und Intuition führen können.
Beuys hat über seine plastische Theorie erst später berichtet und sie auch nie vollständig ausformuliert. Insofern ist eine genaue Datierung hier schwierig. Ihre zentralen Begriffe finden sich aber alle bereits in den späten 1960er Jahren. ↩
Eine Zusammenfassung dieser Gegensatzpaare und die wichtigsten Inhalte der plastischen Theorie in: Caroline Tisdall, Joseph Beuys, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1979, S. 44. Vgl. auch Beuys’ gezeichnete Diagramme zu der Theorie in: Joseph Beuys: Werke aus der Sammlung Karl Ströher, Kunstmuseum Basel, Basel 1969, S. 43, und das Gespräch zwischen Beuys und Hanno Reuther im selben Katalog, S. 38–41. ↩
Mit direkter Demokratie wird ein politischer Prozess bezeichnet, in dem die Wahlberechtigten über politische Sachfragen selbst abstimmen und dafür auf gewählte Repräsentanten verzichten, die in ihrem Namen Entscheidungen treffen. Ihre Anhänger sehen in der direkten Demokratie die Möglichkeit zu größerer Gleichberechtigung, als sie im Parteiensystem einer repräsentativen Demokratie gegeben ist. Beuys’ Engagement für direkte Demokratie begann im März 1970 mit der Gründung der Organisation der Nichtwähler, Freie Volksabstimmung, aus der ein Jahr später die Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung hervorging, die er zusammen mit seinem ehemaligen Schüler Johannes Stüttgen und seinem Freund Karl Fastabend gründete.1 Beide Organisationen setzten sich für die Abschaffung politischer Parteien ein, die durch das Instrument der direkten Volksabstimmung ersetzt werden sollten. Beuys verband damit die Hoffnung, dass auf diese Weise eine gerechtere Gesellschaft im Sinne der von ihm vertretenen „Theorie der sozialen Plastik“ entstehen könnte.
Zur Gründung dieser beiden Organisationen vgl. H. P. Riegel, Beuys. Die Biographie, Berlin 2013, S. 336 und 356. ↩
Im geografischen Sinne meint der Begriff Eurasien die zusammenhängende Landmasse von Europa und Asien. In Beuys’ Werk kommt Eurasia allerdings eine sehr viel komplexere Bedeutung zu, die vermutlich durch das Denken von Rudolf Steiner beeinflusst ist. Auf dem West-Ost-Kongress in Wien hatte der 1922 die Unterschiede zwischen dem „Ostmenschen“ und dem „Westmenschen“ erläutert: Ersterer sei intuitiv und der geistigen Welt verbunden, letzterer hingegen intellektuell und rational. Steiner, der sich für eine geistige Erneuerung einsetzte, war der Überzeugung, dass der Westmensch viel von seinem östlichen Gegenüber lernen könnte, so wie dieser umgekehrt davon profitieren könnte, Aspekte des westlichen Denkens – beispielsweise die Erkenntnisse der Naturwissenschaften – zu übernehmen. Eine Vereinigung der jeweiligen Stärken würde, so Steiner, ein friedliches Zusammenleben ermöglichen und den von ihm angestrebten gesellschaftlichen Fortschritt fördern.1 Im Werk von Beuys spielen solche Vorstellungen über eine eurasische Einheit seit den frühen 1960er Jahren eine wichtige Rolle. In Motiven wie dem Eurasienstab, dem unvollständigen Kreuz und dem Samurai-Schwert ruft er zu einer gegenseitigen geistigen Befruchtung der Kulturen auf.2
Zu der wahrscheinlichen Beeinflussung von Beuys durch Steiner vgl. Uwe M. Schneede, Joseph Beuys. Die Aktionen, Ostfildern-Ruit 1994, S. 129 und Anm. 17. Über Steiners Gedanken zum Ost- und Westmenschen siehe Rudolf Steiner, OST-WEST-APHORISMEN, Erstveröffentlichung in: Das Goetheanum, I. Jahrgang, Nr. 45, 18. Juni 1922, http://anthroposophie.byu.edu/aufsaetze/a316.pdf. Abgerufen am 6. Juni 2014. ↩
Eine gute Zusammenfassung über die Bedeutung, die Eurasia für Beuys hatte, findet sich bei Caroline Tisdall, Joseph Beuys, London 1979, S. 108. ↩
Eurythmie ist eine vom Expressionismus geprägte Aufführungspraxis, die um 1911 von Rudolf Steiner und seiner Frau Marie von Sivers entwickelt wurde. Über expressive Sprache und Körperbewegung sollen die Darsteller ihre Gefühle offenbaren. Die moderne, aus Wörtern bestehende Kommunikation habe das ursprüngliche Empfinden, das in den Ursprachen vorhanden war, zum Verschwinden gebracht. Auch die Gesten von Armen und Händen, die „das Seelische im Gefühlsleben“ einst zum Ausdruck brachten, seien nur noch eingeschränkt vorhanden. Um den ursprünglichen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten wiederherzustellen, entwickelten Sivers und Steiner ein eigenes Repertoire an Arm- und Handbewegungen sowie besondere Sprechweisen über Stimmmodulation. In beiden Fällen wurde die Bedeutung über den abstrakten Rhythmus und die Bewegung von Körper und Stimme zum Ausdruck gebracht.1 Bezüge zur Eurythmie finden sich bei Beuys in den 1960er und frühen 1970er Jahren in einigen Aktionen sowie manchen Zeichnungen und Multiples.
Vgl. Rudolf Steiner, Eurythmie als sichtbare Sprache, Dornach 1924, http://bdn-steiner.ru/cat/ga/279.pdf. Abgerufen am 6. Juni 2014. ↩
Fluxus ist der Name einer Kunstbewegung, die um 1960 in Europa und den USA entstand. Der Begriff, der sich vom lateinischen Wort für „Fließen“ ableitet, wurde 1961 von George Maciunas geprägt. An Fluxus waren viele Künstler beteiligt, deren gemeinsames Ziel darin bestand, die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufzulösen.1 Zunächst war die Bewegung eher aktionistisch geprägt und verknüpfte in Straßen-Happenings und -konzerten Elemente aus der bildenden Kunst mit solchen aus dem Theater- und Musikbereich. Später wurden dann vor allem die Multiples bekannt, mit deren Hilfe die Fluxus-Künstler den Kunstmarkt öffnen und demokratisieren wollten.
Beuys’ Zusammenarbeit mit Fluxus-Künstlern – beispielsweise mit George Maciunas, Nam June Paik und Henning Christiansen – begann in den frühen 1960er Jahren zu einem Zeitpunkt, als Fluxus durch Happenings im Rheinland die deutsche Kunstwelt gehörig durcheinanderwirbelte.2 Über den Kontakt zu Fluxus entwickelte Beuys seine ersten Aktionen. Als Künstler, der selbst von Energieströmen fasziniert war, interessierten ihn an der Fluxus-Bewegung vor allem die dynamischen und prozesshaften Vorgehensweisen. Zudem verband ihn mit diesen Künstlern der Wunsch nach einer Kunst, die nicht elitär, sondern gesellschaftlich relevant ist. In den späteren 1960er Jahren entfernte sich Beuys zunehmend von den Fluxus-Künstlern und ging eigene Wege. Er blieb aber in engem Kontakt zu Nam June Paik und arbeitete häufig mit Henning Christiansen zusammen, der Klänge und Musikstücke zu mehreren seiner Aktionen beisteuerte.
Einen nützlichen Überblick über die Geschichte und Ziele der Fluxus-Bewegung findet sich bei Elizabeth Armstrong u .a. (Hrsg.), In the spirit of Fluxus, Walker Art Center, Minneapolis 1993, S. 24. ↩
Zu Beuys’ Verbindung zu Fluxus siehe beispielsweise Thomas Kellein, „Zum Fluxus-Begriff von Joseph Beuys“, in: Dieter Koepplin u. a. (Hrsg.), Joseph-Beuys-Tagung, Basel 1991, S. 137, und Götz Adriani, Winfried Konnertz, Karin Thomas, Joseph Beuys. Leben und Werk, Köln 1994, S. 77–95. ↩
In den späten 1960er und 1970er Jahren wuchs Beuys’ Unzufriedenheit mit der Verwaltung der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, an der er seit 1961 lehrte. Das betraf insbesondere das Auswahlverfahren für Bewerber. Da Beuys davon überzeugt war, dass das Recht auf Ausbildung ein Menschenrecht ist, begann er, gegen die Politik der Akademie zu protestieren, was im Oktober 1972 schließlich zu seiner Entlassung führte.1
Im Vorfeld dieser Ereignisse hatten Beuys und einige seiner Unterstützer bereits über Alternativen zum bestehenden Hochschulsystem nachgedacht. Zu diesem Zweck bildeten sie im Januar 1972 das „Komitee für eine Freie Hochschule“.2 Im Jahr darauf erfolgte am 27. April 1973 gemeinsam mit dem Maler und Professor Georg Meistermann, dem Herausgeber und Künstler Klaus Staeck und dem Journalisten Willi Bongard die Gründung einer Freien internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung/Free International University for Creativity and Interdisciplinary Research (F.I.U.).3 Die Hauptaufgabe dieser Universität bestand darin, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives Potenzial unabhängig von ihrer sozialen Stellung und ihrem Bildungshintergrund zu entfalten, wie in einem Manifest ausgeführt wird, das unter anderem von Beuys und dem Schriftsteller Heinrich Böll unterzeichnet wurde.4 Beuys setzte sich dafür ein, dass Kreativität auch außerhalb der professionellen Kunstszene gesellschaftliche Anerkennung fand und wollte mit seiner F.I.U. die Grenzen zwischen den „weltfremden Künstlern“, deren Arbeiten nur in Museen und Galerien zu sehen sind, und den „kunstfremden Nichtkünstlern“ niederreißen, deren alltägliche Beschäftigungen häufig kreativen Charakter hatten, ohne dass sie deshalb als Kunst angesehen wurden.5 Um auch diesen anderen Arten von Kreativität Raum zu geben, intendierte Beuys einen erweiterten Kunstbegriff. Dann nämlich könnten die kreativen Fähigkeiten aller in den Dienst einer positiven Entwicklung der Gesellschaft gestellt werden, was auch zentrales Anliegen seiner „sozialen Plastik“ ist.
Trotz einiger erfolgversprechender Gespräche mit der Stadtverwaltung in Düsseldorf 1974 und Versuchen, die Universität in Irland anzusiedeln, konnte kein Gelände für die F.I.U. gefunden werden. Stattdessen eröffneten Beuys und seine Mitstreiter verschiedene Zweigstellen der F.I.U. in Düsseldorf, Achberg, Hamburg, Gelsenkirchen und Pescara, die für die Organisation und Realisation der jeweiligen Projekte vor Ort verantwortlich waren.6 Zeitlich begrenzt gab es in Kassel zur documenta 5 (1972) und documenta 6 (1977) ebenfalls ein F.I.U.-Büro, das als Plattform für öffentliche Gespräche und als Informationsbüro diente, das die Ziele der Hochschule vermittelte.
Eine detaillierte Übersicht über die Geschehnisse findet sich in: Susanne Anna (Hrsg.), Joseph Beuys, Düsseldorf, Ostfildern 2008. ↩
Ebda., S. 103. ↩
H. P. Riegel, Beuys. Die Biographie, Berlin 2013, S. 392. ↩
Vgl. Caroline Tisdall, Joseph Beuys, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1979, S. 278. ↩
Ebda., S. 279. ↩
Susanne Anna (Hrsg.), Joseph Beuys, Düsseldorf, Ostfildern 2008, S. 150–163; Caroline Tisdall, Joseph Beuys, The Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1979, S. 282. ↩
Der dänische Musiker und Komponist Henning Christiansen (1932–2008), mit dem Beuys häufig zusammenarbeitete, gehörte der Fluxus-Bewegung an. Er hatte sich ihr angeschlossen, nachdem er Nam June Paik 1961 in Kopenhagen kennengelernt hatte, und nahm in den folgenden Jahren an zahlreichen Fluxus-Veranstaltungen in ganz Europa teil. Beuys und Christiansen trafen sich erstmals 1964 in der Technischen Universität von Aachen, wo die Fluxus-Veranstaltung „ACTIONS / AGIT POP / DE-COLL / AGE / HAPPENING / EVENTS / ANTIART / L’AUTRISME / ART TOTAL / REFLUXUS-Festival der neuen Kunst“ stattfand.1 Ihre Zusammenarbeit begann 1966, als Beuys Christiansen bat, Geräusche und Musik für seine Aktion MANRESA in der Düsseldorfer Galerie Schmela beizusteuern. Christiansens Beitrag bestand hier, wie später auch in anderen Aktionen, in einer experimentellen Klang-Collage aus vorher aufgezeichneter Musik und Umgebungsgeräuschen sowie live eingesetzten Instrumenten.2 Aufnahmen von Henning Christiansen sind Bestandteil verschiedener Multiples von Beuys, darunter Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee von 1969, Celtic + ∿∿∿∿ von 1971 und Schottische Symphonie/Requiem of Art von 1973.
Die Intuition spielt im gesamten Schaffen von Joseph Beuys eine zentrale Rolle. Er sah sie als ein der Rationalität entgegengesetztes Erkenntnisprinzip, das für ihn eine „höhere Form des Denkens“ darstellte.1 In Anlehnung an Rudolf Steiner war die Intuition für Beuys eine geistige Fähigkeit und zugleich eine Quelle der Kreativität. Rationalismus und Materialismus hingegen hatten in seinen Augen dazu geführt, dass die westliche Gesellschaft seit der Moderne die intuitiven Kräfte und damit die Verbindung zu geistigen Ebenen eingebüßt hatte. Dadurch wurden auch die kreativen Fähigkeiten des Menschen geschwächt, die ihm ein selbstbestimmtes Handeln ermöglichten. Um diesen negativen Entwicklungen entgegenzuwirken und die verloren gegangene Verbindung zur geistigen Ebene wiederherzustellen, wollte Beuys durch sein Werk der Intuition wieder Raum geben. Die Rätselhaftigkeit, die viele seiner Arbeiten auszeichnet, weist in diese Richtung. Immer wieder betonte er, dass sich sein Werk einem rationalen Zugang entziehe und man sich ihm nur über die Intuition nähern könne: „Kunst ist nicht dazu da, daß man Erkenntnisse auf direktem Wege gewinnt, sondern vertiefte Erkenntnisse über das Erleben herstellt. Es muß mehr passieren als nur logisch verständliche Dinge. Kunst ist nicht zum Verstehen da, sonst brauchte es keine Kunst zu geben.“2
Beuys hat das Kreuz in unterschiedlichen Formen mit vielfältigen inhaltlichen Bezügen verwendet.1 In seiner langgestreckten Form thematisiert es Beuys’ Beschäftigung mit dem Christentum, die von der anthroposophischen Lesart Rudolf Steiners beeinflusst ist. Für Steiner stellte Jesus Christus durch seine Menschwerdung einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit dar. Denn erst durch Christus konnte der Mensch seiner selbst gewahr werden und sein Ich erkennen. Daraus zog Steiner den Schluss, der Mensch müsse Gott in sich finden, um zum wahren Menschentum, zur Freiheit des Geisteslebens und zur Selbstbestimmung aufzusteigen.2 In diesem Sinne ist das Kreuz auch bei Beuys als Symbol für die Kraft der individuellen Freiheit zu sehen.
Als gleichschenkligem Kreuz kommen ihm weitere Bedeutungen zu, die je nach Gesamtzusammenhang auf Gefahr, Heilungsfunktion oder Ganzheitlichkeit verweisen. Häufig taucht es in Form eines Stempels in der rotbraunen, von Beuys als Braunkreuz bezeichneten Ölfarbe auf. Das erinnert an das Rote Kreuz und damit gleichermaßen an Notfallsituationen wie auch an Rettung und Genesung.3 Als Symbol, in dem sich zwei gleiche, formal aber entgegengesetzte Elemente zu einer größeren ausgeglichenen Form verbinden, deutet das symmetrische Kreuz auf Beuys’ Intention, Gegensätze oder voneinander getrennte Elemente in Einklang zu bringen. Um das Moment der Trennung von eigentlich Zusammengehörigen zu veranschaulichen, hat Beuys öfter auch ein „Halbkreuz“ – so Beuys’ Begriff – verwendet, ein unvollständiges Kreuz also, dem eine Seite fehlt. In seiner Unvollständigkeit verweist das Kreuz einerseits auf einen Begriff aus einem Gegensatzpaar – also etwa Geist oder Materie, Vernunft oder Intuition –, symbolisiert im fehlenden Teil aber andererseits auch dessen nicht vorhandenes Gegenstück. Die Verbindung des Halbkreuzes mit seinem fehlenden Arm entspricht demnach einer Vereinigung von Gegensätzen, zu der Beuys in vielen seiner Arbeiten aufgerufen hat.
Schließlich stellte das Kreuz für Beuys auch ein Symbol für das menschliche Streben nach Erkenntnis dar. Darauf wies er in einem Gespräch mit Friedhelm Mennekes hin: „Das Kreuz erscheint (…) überall wie eingewachsen in die Bestrebungen des Menschen, in seinem ganzen Suchen nach Erkenntnis allerorten, nicht nur als religiös fixiertes Zeichen, sondern vor allem als Orientierungssymbol in der Wissenschaft.“4
Durch seine vielschichtigen Bedeutungen lässt das Kreuzzeichen in Beuys’ Werk viele Interpretationen zu, die vom Kontext der jeweiligen Arbeit anhängen. Dennoch besteht eine Gemeinsamkeit: Das Kreuz signalisiert Hoffnung und ist insofern vorwiegend positiv besetzt. In einem weiteren Sinne spiegelt es damit Beuys’ Vorstellung von Fortschritt, den er in seiner Kunst und in geistigen und gesellschaftlichen Zusammenhängen anstrebte.
Eine Zusammenfassung der wichtigsten Bedeutungen, die das Kreuz bei Beuys hat, findet sich bei Caroline Tisdall, Joseph Beuys, London 1979, S. 108. ↩
Vgl. hierzu Rudolf Steiner, Der Christus-Impuls und die Entwickelung (sic) des Ich-Bewusstseins, Berlin 1909/1910: http://anthroposophie.byu.edu/vortraege/116.pdf. Abgerufen am 6. Juni 2014. Vergleichbare Äußerungen über Christus finden sich bei Beuys in: „Im Gespräch mit Franz Joseph van der Grinten“, in: Kreuz + Zeichen. Religiöse Grundlagen im Werk von Joseph Beuys, Suermondt-Ludwig-Museum und Museumsverein Aachen, Aachen 1985, S. 14–15. ↩
Beuys beschreibt das gleichseitige rote Kreuz als Symbol für einen Notfall, in: Caroline Tisdall, Joseph Beuys, London 1979, S. 168. ↩
Friedhelm Mennekes, Beuys zu Christus, Stuttgart 1989, S. 80 ↩
Rudolf Steiner (1861–1925) war für Beuys ein wichtiger Impulsgeber.1 Der Philosoph und spirituelle Lehrer war Begründer der Anthroposophie, einer weltanschaulichen Lehre, für die der Weg zur individuellen Freiheit über die spirituelle Erkenntnis führte. In Steiners Sicht hat die Menschheit unter dem Einfluss von Rationalismus und Materialismus den Bezug zum Geistigen verloren. Um hier wieder eine Verbindung herzustellen, propagierte er die Kräfte der Imagination, der Inspiration und Intuition – Fähigkeiten also, in denen Rationalität nur eine untergeordnete Rolle spielt. Über den Zugang zur spirituellen Welt soll der Mensch den Weg zum bewussten menschlichen Handeln finden, das ihn schließlich zur Freiheit führt.2
Beuys’ Beschäftigung mit Steiner begann in den späten 1940er Jahren und begleitete ihn sein Leben lang.3 Er griff nicht nur Grundzüge von Steiners Weltsicht auf, sondern teilte auch dessen Überzeugung, dass die Kunst als ein Vehikel für die Intuition fungieren kann, die ihrerseits einen entscheidenden Faktor für den Prozess der geistigen Entwicklung des Menschen darstellt. Weitere Parallelen zu Steiner finden sich in Beuys’ Vorstellungen über die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Erneuerung, die ihn vor allem in den 1970er Jahren beschäftigte, sowie in einzelnen Motiven und Konzepten – beispielsweise in seiner Auffassung von Wärme, vom Leben der Bienen und von Eurasien als fruchtbarer Verbindung zwischen östlichen und westlichen Elementen.4
Für einen Überblick zum Verhältnis zwischen Beuys und Steiner siehe Verena Kuni, Der Künstler als „Magier“ und „Alchemist“ im Spannungsfeld von Produktion und Rezeption. Aspekte der Auseinandersetzung mit okkulten Traditionen in der europäischen Kunstgeschichte nach 1945. Eine vergleichende Fokusstudie – ausgehend von Joseph Beuys, unveröffentlichte Dissertation, Philipps-Universität Marburg, Marburg 2004, S. 185–196; H. P. Riegel, Beuys. Die Biographie, Berlin 2013, S. 100–110, S. 124–132 und passim; John F. Moffitt, Occultism in Avant-Garde Art: The Case of Joseph Beuys, Ann Arbor 1988, Kapitel 5 und 6 ↩
Steiner hat diese Ideen erstmals 1894 in seinem Text Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung formuliert und später mehrfach überarbeitet. http://anthroposophie.byu.edu/schriften/004.pdf. Abgerufen am 7. Juni 2014. ↩
Wann Beuys ganz genau begann, sich mit Steiner zu beschäftigen, ist schwer zu sagen. Siehe dazu H. P. Riegel, Beuys. Die Biographie, Berlin 2013, S. 100–103. ↩
Seit den frühen 1970er Jahren sprach Beuys häufig über die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Erneuerung, durch die die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit realisiert werden sollten. Mit dieser Forderung übernimmt er Steiners Prinzip der „Dreigliederung des sozialen Organismus“, die dieser zwischen 1917 und 1922 als Modell für die gesellschaftliche Entwicklung beschrieben hatte. Vgl. hierzu Rudolf Steiner, Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915–1921. Gesamtausgabe Nr. 24, Dornach 1961. Im Zusammenhang mit seinem ambitionierten Programm zu einer Reform der Gesellschaft orientierte sich Beuys auch an den anthroposophischen Schriften des Wirtschaftswissenschaftlers Wilhelm Schmundt, der seine Theorien in dem Text Das Unternehmerkapital im sozialen Organismus darlegte. Siehe http://www.dreigliederung.de/essays/1975-07-001.html. Abgerufen am 7. Juni 2014. Für weitere Informationen zu Beuys’ Gedanken über Geld und Produktion vgl. Ulrich Rösch, „Man kann Joseph Beuys erst verstehen, wenn man ihn schon verstanden hat: Erläuterungen zum Geld- und Kapitalbegriff von Joseph Beuys“, in: Rainer E. Rappmann (Hrsg.), Was ist Geld? Eine Podiumsdiskussion, Wangen 1991. ↩
In den frühen 1970er Jahren erweiterte Beuys seine künstlerische Praxis. Hatte er sich in den vorangegangenen Jahrzehnten vor allem auf Zeichnungen, Aktionen und Skulpturen konzentriert, traten nun stärker politische und gesellschaftliche Ziele in den Vordergrund. Deutlich wurde das in seiner Mitwirkung bei der Gründung der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung 1971, der Free International University (F.I.U.) 1973 und seinem wachsenden Engagement, mit dem er sich seit den mittleren 1970er Jahren für die Umweltpolitik und eine Restrukturierung des Finanzsystems einsetzte. Damit war aber nicht etwa ein Abrücken von der Kunst intendiert, sondern vielmehr deren Erweiterung.
Beuys stellte damit die traditionelle Auffassung eines Kunstwerks als Gegenstand, der von einem Künstler stammt, in Frage. Er plädierte vielmehr dafür, alle Formen der Kreativität als Kunst aufzufassen, unabhängig davon, ob sie von einem gelernten Künstler stammen und materiell greifbar sind. Alle Tätigkeiten, die zu einer Änderung der menschlichen Verhältnisse führten, seien künstlerisch, argumentierte er, und alle Arten von Material, seien sie konkret und fassbar oder nicht, können durch einen künstlerischen Akt gestaltet werden.1
Das maßgebliche Material, das es im Sinne dieses erweiterten Kunstbegriffs zu gestalten galt, war in Beuys’ Augen die Gesellschaft selbst. Sie wurde von ihm als „soziale Plastik“ verstanden. Um sein angestrebtes Projekt einer gesellschaftlichen Veränderung realisieren zu können, also diese soziale Plastik umgestalten und weiterentwickeln zu können, war das kreative Potenzial aller Menschen notwendig, nicht nur das der kleinen Gruppe professioneller Künstler.
Für einen genaueren Überblick über Beuys’ Verständnis einer sozialen Plastik, auch in Verbindung zu den Ideen von Rudolf Steiner, siehe Rainer Rappmann, „Der soziale Organismus – ein Kunstwerk“, in: Volker Harlan u. a. (Hrsg.), Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976, S. 9–72. Siehe auch Frank Meyer, „Sichtbare Skulptur – Unsichtbare Skulptur. Der Energieplan von Joseph Beuys“, in FIU Kassel (Hrsg.), Die unsichtbare Skulptur. Zum erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys, Stuttgart 1989, S. 91–104. ↩
Seit den späten 1940er Jahren spielen Tiere eine wichtige Rolle in Beuys’ Werk. Besonders häufig finden sich Bienen, Hasen, Hirsche, Elche und Schwäne, doch tauchen auch andere Tiere wie Pferde oder Kojoten auf. Beuys, der sich schon als Kind für die Mythologie interessiert hat und über entsprechende Kenntnisse verfügte, verband mit seinen Tierdarstellungen vielfältige Bedeutungen. Der Hirsch kann in seinem Werk beispielsweise die Funktion eines geistigen Führers übernehmen, die ihm auch in der keltischen Mythologie zugeschrieben wird. Ein Schwan hingegen kann – wie in einigen nordischen Mythen – für die Verbindung zwischen Leben und Tod stehen.1
Neben ihrer mythologischen Bedeutung sieht Beuys in den Tieren aber auch eine Vorbildfunktion für den Menschen. Kaninchen, die sich – so nahm Beuys irrtümlicherweise an – in den Boden graben, vereinen in sich die materiellen und geistigen Bereiche, was sie aus Beuys’ Sicht zu Vorbildern des Menschen macht.2 Auch das Verhalten von Kojoten erschien Beuys sehr lehrreich: Obwohl Kojoten normalerweise alleine jagen, schließen sie sich zusammen, wenn Gefahr droht. In diesem Zusammenwirken von individueller Freiheit und sozialem Zusammenhalt erkannte Beuys ein Verhalten, das auch für den Menschen von Vorteil ist.3
Der wichtigste Aspekt, den Beuys mit Tieren verband, waren deren ursprüngliche spirituelle Energien. Gegenüber Caroline Tisdall erläuterte er 1974, dass Tiere für ihn Lebewesen seien, die problemlos zwischen den verschiedenen Existenzebenen hin- und herwechseln könnten und die Verkörperung der Seele oder eine frühe Form spiritueller Wesen darstellten, die Zugang zu anderen Bereichen haben.4 Durch diese Flexibilität kann die Tierwelt als Inspirationsquelle für den Menschen dienen und ihn dabei unterstützen, den Materialismus zu überwinden – ein Prozess, den Beuys mit seiner Kunst befördern wollte.
Zu den verschiedenen Bedeutungen der Tiere bei Beuys vgl. Ann Tempkin, „Life Drawing“ in: Ann Temkin, Thinking Is Form: The Drawings of Joseph Beuys, New York 1993, S. 33–34. ↩
Vgl. Beuys, „Gespräch mit Hagen Lieberknecht“, in: Joseph Beuys. Zeichnungen 1947–1959, Band I, Köln 1972, S. 10. ↩
Götz Adriani, Winfried Konnertz, Karin Thomas, Joseph Beuys. Leben und Werk, Köln 1994, S. 274. ↩
„Joseph Beuys im Gespräch mit Caroline Tisdall, 1974“, in: Dieter Koepplin (Hrsg.), Secret Block for a Secret Person in Ireland: Kunsthalle Tübingen, Tübingen 1988, o. S. ↩
In Wärme oder Wärmeenergie sah Beuys ein Instrument, um seine kreativen Intentionen zu verwirklichen. Beuys fasste Wärme als eine Energie auf, die in Materie eindringen kann, selbst aber immateriell und somit spirituell ist. Sie kann frei zirkulieren und ist ein belebendes Element, das Veränderung ermöglicht. Deshalb hat Beuys im Zusammenhang mit Wärme auch häufig von evolutionärer Kraft und einem evolutionärem Auslöser gesprochen.1
In Beuys’ Arbeiten finden sich zahlreiche Materialien, die er als Wärmespeicher auffasst und einsetzt. Die darin enthaltene Energie soll sich auf den Betrachter übertragen und ihn dazu anregen, seine eigenen kreativen Fähigkeiten zu aktivieren, die in sozialer, geistiger oder künstlerischer Form zum Ausdruck kommen können. Typische Substanzen, die Beuys mit Wärme verbindet, sind Fett, Filz, Honig und Kupfer. Wichtig ist dabei nicht nur die lebensspendende Funktion von Wärme, sondern auch der prozessuale Gedanke: Durch Wärme kann der Aggregatszustand von Fett verändert werden, es wird weich und ermöglicht dadurch eine Umformung in etwas Neues. In diesem Sinne symbolisiert das Fett die Möglichkeit zur Veränderung. Zugleich dienen Fett und Filz als Isolator, wohingegen Kupfer als Leiter von Wärme oder Elektrizität fungiert. Honig wiederum spendet Wärme in seiner Funktion als Nahrungsmittel, das man dem Körper zuführt.
Die physikalischen Eigenschaften der von Beuys verwendeten Materialien sind von großer Bedeutung für das Verständnis des Werks, müssen aber immer auch in ihrer symbolischen Funktion gesehen werden, die über die Materialebene hinausweist und appellativen Charakter hat. Die Prozesse, auf die Beuys in seinen Arbeiten verweist, signalisieren die Aufforderung, solche Veränderungsprozesse auch im Denken und in der Gesellschaft einzuleiten.
Zu Beuys’ Äußerungen über Wärme und Evolution siehe Rainer Rappmann, Peter Schata und Volker Harlan, Soziale Plastik: Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1976, S. 89. ↩