Was sind Multiples?

Wie der Name bereits vermuten lässt, sind „Multiples“ Kunstwerke, von denen mehrere – üblicherweise identische – Exemplare hergestellt werden. Sie sind demnach keine Kopien eines Originals, sondern selbst lauter Originale. Der Begriff wurde 1959 von dem Schweizer Künstler Daniel Spoerri im Zusammenhang mit seiner Edition MAT (Multiplication d’Art Transformable)1 geprägt. Dahinter stand die Idee, kleine, dreidimensionale Kunstwerke in Serie zu produzieren und zu einem günstigeren Preis zu verkaufen, als das bei Unikaten möglich war.2 Auf diese Weise sollte die Kunst einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Zwar waren schon lange bestimmte Drucktechniken und Abgussverfahren bekannt, mit denen Bücher, Graphiken und Skulpturen vervielfältigt werden konnten, doch wollte Spoerri die Reproduktionstechnik auch auf zeitgenössische Objekte ausweiten – auf Objets trouvés (Fundstücke), Readymades und kinetische Objekte, auf deren Produktion sich die Edition MAT spezialisiert hatte. Vorbild war hier der französische Künstler Marcel Duchamp, der zwischen 1935 und 1941 Miniaturrepliken einiger seiner Readymades herstellen ließ und in der Schachtel-im-Koffer als Edition herausgab. 

Spoerris Initiative entwickelte sich zeitgleich mit den demokratischen Bestrebungen der 1960er Jahre, in deren Verlauf sich die Kunstwelt zunehmend öffnete – und mit ihr der Markt für Multiples: Durch das Engagement junger Galeristen, die sich auf solche Editionen spezialisierten, durch Kunstmessen und Ausstellungen, aber auch ungewöhnliche Präsentationsorte wir Kaufhäuser fanden bis zum Ende dieses Jahrzehnts zahlreiche Multiples neue Besitzer.3 

Entscheidender Auslöser für diese Entwicklung war die Fluxus-Bewegung, die sich zu Beginn der 1960er Jahre gebildet hatte und der Spoerri angehörte. Multiples waren für Fluxus von zentraler Bedeutung, insbesondere bei einem der Gründer der Bewegung, bei George Maciunas. Der aus Litauen stammende amerikanische Künstler wollte sich der elitären Haltung des Kunstmarkts widersetzen und eröffnete in New York einen FluxShop, für den sogenannte Flux-Boxes und Flux-Kits produziert wurden. Das waren kleine kompakte Behälter, meist nicht größer als eine Brieftasche, die mit Multiples von verschiedenen Künstlern bestückt waren.4 Durch die künstlerische Praxis von Fluxus erweiterte sich die Bandbreite an Multiples erheblich – es gab nun auch Partituren für Happenings mit lustigen oder irritierenden Anweisungen, Spiele, Booklets oder andere Druckerzeugnisse.

Beuys, der Anfang der 1960er Jahre in der Fluxus-Bewegung aktiv war und mehrfach mit George Maciunas zusammengearbeitet hatte, wusste von diesen Aktivitäten und begann 1965 selbst mit der Herstellung von Multiples. Anders als Maciunas, dessen Arbeiten kleinformatig waren und meist in eine Hand passten, waren Beuys’ frühe Multiples größer und in ihrer Herstellung oft viel aufwendiger. Statt kleiner Drucksachen oder Kisten mit einfachen vorgefertigten Gegenständen bevorzugte Beuys Werke mit skulpturalem Charakter. Dafür kombinierte er Vorgefundenes mit Handgemachtem, wodurch sich seine Arbeiten deutlich von den Fluxus-Multiples oder auch den Arbeiten aus Spoerris MAT-Edition unterschieden, die auf den Charakter des Handgemachten gerade verzichteten. Auch bei späteren Multiples von Beuys bleibt seine persönliche Handschrift durch die Signatur, durch handschriftliche Texte oder Stempel, die von Hand aufgebracht wurden, immer spürbar. Mit Maciunas und Spoerri verband ihn die Vision einer demokratischen Kunst. Vor diesem Hintergrund verstand er seine Multiples als „Vehikel“, die möglichst vielen Menschen einen Zugang zu seiner Kunst ermöglichen und zugleich seine Ideen verbreiten sollten.5 Als er um 1970 damit begann, seine gesellschaftspolitischen Aktivitäten auszubauen, wurden die Multiples zu idealen Vermittlern seiner Vorstellungen. 

Beuys hat seine Multiples über eine Spanne von zwanzig Jahren produziert – von 1965 bis kurz vor seinem Tod 1986. Damit zählt er zu den ganz wenigen Künstlern seiner Generation, die sich über einen langen Zeitraum intensiv mit dieser Kunstform beschäftigt haben. In diesen Jahren experimentierte er mit immer wieder anderen Formaten und Materialien, arbeitete mit verschiedenen Herausgebern, Freunden und Kollegen zusammen und entwickelte das Spektrum seiner Themen beständig weiter. Dadurch verdanken wir ihm ein ungewöhnlich umfassendes, überaus vielschichtiges und bedeutendes Kompendium an Multiples.


  1. Julia Robinson, „Multiple Manifestations. Nouveau Réalisme and Fluxus“, in: The Small Utopia. Ars Multiplicata, Mailand 2012, S 136. 

  2. Zur Gründung der Edition MAT vgl. Katerina Vatsella, Edition MAT: die Entstehung einer Kunstform – Daniel Spoerri, Karl Gerstner und das Multiple, Bremen, 1998, S. 36–40. 

  3. Um die Bedeutung zu verstehen, die den Multiples Ende der 1960er Jahre zukam, sei auf die Fernsehproduktion Konsumkunst – Kunstkonsum verweisen, die am 17. Oktober 1968 unter der Regie von Gerry Schum in Zusammenarbeit mit Bernhard Höke und Hannah Weitemeier als Auftragsproduktion für den Westdeutschen Rundfunk entstand.  

  4. Zu Maciunas’ Flux-Kits und Flux-Boxen siehe Julia Robinson, „Multiple Manifestations. Nouveau Réalisme and Fluxus“, in: The Small Utopia. Ars Multiplicata, Mailand 2012, S. 137. 

  5. Jörg Schellmann (Hrsg.), Joseph Beuys. Die Multiples, Werkverzeichnis der Auflagenobjekte und Druckgraphik 1965–1986, München, New York 1997, S. 9.