Foto: © Mimmo Jodice, 1979

Joseph Beuys war eine herausragende Künstlerpersönlichkeit, dessen Werk bis heute von intensiven und oftmals hitzig geführten Debatten begleitet wird. Sein Einfluss auf die Kunstwelt der letzten fünfzig Jahre kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Joseph Beuys wurde 1921 in Krefeld geboren, wuchs aber im nahegelegenen Kleve an der niederländischen Grenze auf. Im Zweiten Weltkrieg absolvierte er eine Ausbildung zum Funker in einem Kampfflugzeug.1 1944 wurde er über der Krim abgeschossen und erlitt dabei Verletzungen, von denen er sich nie mehr ganz erholte.

Nach dem Krieg wandte sich Beuys bald der Kunst zu: 1947 schrieb er sich an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf ein und studierte dort bis 1953 bei dem Bildhauer Ewald Mataré – einem namhaften deutschen Künstler, der vor allem für seine Tierskulpturen und Auftragsarbeiten für Kirchen bekannt ist. Charakteristisch für Mataré ist ein auf das Wesentliche reduzierter zeichnerischer Stil, mit dem er über die bloße Erscheinung hinaus zum wahren Kern der dahinterliegenden Wirklichkeit vordringen wollte. Die metaphysische Qualität dieser Werke spiegelt sich in den ersten zeichnerischen und plastischen Arbeiten von Beuys wider, die noch deutlich von Mataré beeinflusst sind.2

Nach und nach emanzipierte sich Beuys jedoch von seinem Lehrer und entwickelte eine eigene Ästhetik mit einer subjektiven, mit komplexer Bedeutung aufgeladenen Ikonographie, die für sein gesamtes Werk bestimmend blieb.

Einen wichtigen Katalysator stellte für Beuys die anthroposophische Lehre Rudolf Steiners dar.3 Steiner sah im Rationalismus eine Folge des materialistisch geprägten Denkens der modernen Gesellschaft, dem er durch die Förderung geistiger Fähigkeiten wie der Imagination, der Inspiration und Intuition entgegentreten wollte. Auf diese Weise sollte die Gesellschaft wieder ihr Gleichgewicht finden und sich nach humanitären Prinzipien weiterentwickeln,4 wobei der Kunst aus Steiners Sicht eine zentrale Bedeutung zukam.5 Beuys teilte diese Überzeugung und sah sich in der Rolle desjenigen, der für eine solche geistige Erneuerung eintreten wollte.6

1961 übernahm Beuys die Professur für Bildhauerei an der Düsseldorfer Akademie von Sepp Mages. Im Umfeld der Fluxus-Bewegung begann er in den folgenden Jahren, seine Aktionskunst zu entwickeln, in der bis dato kunstfremde Materialien wie Kupfer, Fett, Filz und Honig Verwendung fanden. Diese Materialien waren ebenso wie seine Handlungen mit komplexen symbolischen Bedeutungen aufgeladen, für deren Verständnis Beuys auf die intuitiven Fähigkeiten setzte, die dem rationalen Denken nicht zugänglich sind.7

Durch seine Umtriebigkeit und seine vielfältigen künstlerischen und politischen Aktivitäten wurde er in den Folgejahren schnell bekannt, war aber nicht unumstritten. Während sich seine Befürworter von der Unmittelbarkeit seiner Ästhetik und den komplexen Bedeutungsebenen seiner Materialien angesprochen fühlten, brandmarkten Kritiker ihn als Scharlatan, der sich eines obskuren und irrationalen Mystizismus’ bediene. Beuys selbst sah sich als einen Schamanen, der mit den Mitteln der Kunst zur Heilung der Gesellschaft beitragen könne.8 In diese Richtung weist auch seine Beschäftigung mit den Multiples, die in dieser Zeit begann. Er hoffte, dass sie ihren Weg über die engen Grenzen der Museen, Galerien und exklusiven Privatsammlungen hinaus in zahlreiche deutsche und internationale Sammlungen finden und so als Vehikel seiner Kunst dienen konnten, um deren Intentionen einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln.

In den frühen 1970er Jahren intensivierte Beuys sein gesellschaftspolitisches Engagement. Wie in der Produktion seiner Multiples bereits deutlich wurde, intendierte er eine Erweiterung seiner künstlerischen Praxis, die ihn zu seinem „erweiterten Kunstbegriff“ führte. Beuys erkannte das kreative Potenzial, das in öffentlichen Auftritten wie Vorträgen, Lehrveranstaltungen und politischen Debatten steckt, und begann, die Gesellschaft als eine „soziale Plastik“ zu sehen, die durch die kollektive Mitwirkung ihrer Mitglieder geformt wird. Indem er jede Form menschlicher Kreativität als künstlerischen Akt sah, wollte er die kreativen Fähigkeiten jedes Einzelnen nutzbar machen. Entsprechend setzte er sich für die Gründung verschiedener Organisationen – darunter eine Universität, eine landwirtschaftliche Stiftung und eine politische Partei – ein. Im Zuge seiner zahlreichen politischen Projekte erlangte insbesondere sein Versuch zur Demokratisierung der Hochschule große Bekanntheit. Dafür öffnete er seine Düsseldorfer Klasse für alle Bewerber, was 1972 zu seiner fristlosen Kündigung führte, die allerdings sechs Jahre später vom Bundesarbeitsgericht für ungültig erklärt wurde. In den folgenden Jahren unternahm Beuys zahlreiche Reisen, unter anderem in die USA, nach Australien, Japan und Italien, um seine künstlerischen Ideen durch Installationen, Ausstellungen und Aktionen weiterzuverbreiten, und setzte seinen Weg gegen alle Widerstände unbeirrt fort, bis ihn Mitte der 1980er Jahre sein schlechter werdender Gesundheitszustand dazu zwang, sein Arbeitspensum zu reduzieren.

Die Kunst ist nach meiner Meinung die einzige evolutionäre Kraft. Das heißt, nur aus der Kreativität des Menschen heraus können sich die Verhältnisse ändern. Und ich glaube, viele Menschen spüren, daß das Menschliche, also dieser menschliche Punkt, in der Kunst am meisten weiterentwickelt werden kann.

Als Beuys 1986 starb, war er längst zu einem der wichtigsten Künstler seiner Zeit avanciert. Die Wertschätzung galt dabei nicht nur den eigentlichen künstlerischen Werken, er erfuhr auch große Anerkennung dafür, dass er die soziale Rolle der Kunst ins öffentliche Bewusstsein gerufen hatte. Zudem wurden durch viele seiner Schüler, die sich inzwischen selbst zu international erfolgreichen Künstlern entwickelt hatten, schließlich auch seine besonderen Fähigkeiten als Lehrer anerkannt.

In den folgenden Jahren gewann sein künstlerisches Vermächtnis zunehmend an Bedeutung – insbesondere im Bereich der sozialen Plastik. Seine Vorstellung von einem Kunstwerk als Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses wurde nunmehr von vielen Künstlern der jüngeren Generation aufgegriffen und führte zu einer nachhaltigen Veränderung der zeitgenössischen Kunst der 1990er und 2000er Jahre. Allen Kontroversen zum Trotz, denen er sich zu Lebzeiten ausgesetzt sah, hat Joseph Beuys damit tiefe Spuren hinterlassen, die zu einem grundlegend neuen Verständnis des Kunstbegriffs geführt haben.


  1. Für einen detaillierten Überblick über Beuys’ Leben bis zum Zweiten Weltkrieg vgl. H. P. Riegel, Beuys. Die Biographie, Berlin 2013, S. 9–64. 

  2. Über Beuys’ Studium und seine Auseinandersetzung mit Mataré vgl. ebda., S. 91–99, sowie Heiner Stachelhaus, Joseph Beuys, Düsseldorf, Wien, New York 1991, S. 31–42. 

  3. Zum Verhältnis zwischen Beuys und Rudolf Steiner vgl. Verena Kuni, Der Künstler als „Magier“ und „Alchemist“ im Spannungsfeld von Produktion und Rezeption. Aspekte der Auseinandersetzung mit okkulten Traditionen in der europäischen Kunstgeschichte nach 1945. Eine vergleichende Fokusstudie – ausgehend von Joseph Beuys, unveröffentlichte Dissertation, Philipps-Universität Marburg 2004, S. 185–196; H. P. Riegel, Beuys. Die Biographie, S. 100–110, S. 124–132 und passim; John F. Moffitt, Occultism in Avant-Garde Art: The Case of Joseph Beuys, Ann Arbor 1988, Kapitel 5 und 6. 

  4. Vgl. dazu zwei Einführungen von Steiner in seine Lehre und seine Auffassung von der geistigen menschlichen Entfaltung: Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, http://anthroposophie.byu.edu/schriften/009.pdf; Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, http://anthroposophie.byu.edu/schriften/010.pdf. Abgerufen am 24. Mai 2014. 

  5. 1923 befasste sich Steiner in einer Vorlesungsreihe mit der Kunst. Diese Vorträge wurden später unter dem Titel Die Mission der Kunst veröffentlicht. http://anthroposophie.byu.edu/vortraege/059_09.pdf. Abgerufen am 24. Mai 2014. 

  6. Dazu merkte Beuys 1972 in einer Diskussion an: „Die Kunst ist nach meiner Meinung die einzige evolutionäre Kraft. Das heißt, nur aus der Kreativität des Menschen heraus können sich die Verhältnisse ändern. Und ich glaube, viele Menschen spüren, daß das Menschliche, also dieser menschliche Punkt, in der Kunst am meisten weiterentwickelt werden kann.“ Zit. n. Werner Krüger, „Beuys: Mein Kampf ist eine Plastik. Trotz Rausschmiß und Lehrverbot will er hart bleiben“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 19. Oktober 1972. Wiederabgedruckt in: Götz Adriani, Winfried Konnertz und Karin Thomas, Joseph Beuys, Köln 1973, S. 169. 

  7. Besonders anschaulich wurde dies in der Aktion wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt (1965), bei der Beuys einen toten Hasen in seinen Armen hielt, dem er etwas zuflüsterte, was das Publikum nicht verstehen konnte, während er mit ihm an Bildern vorbeiging. Später erläuterte er, dass er damit die eingeschränkten Möglichkeiten rationaler Fähigkeiten vor Augen führen wollte, die diesen insbesondere im Zusammenhang mit der Kunst zukommt: „Die Idee, einem Tier etwas zu erklären, fördert den Sinn für das Geheimnis der Welt und der Existenz, der die Imagination anspricht. Wie gesagt, noch ein totes Tier bewahrt stärkere Kräfte der Intuition als manche menschlichen Wesen mit ihrem unerbittlichen Rationalismus.“ Zit. n. Caroline Tisdall, Joseph Beuys, London 1979, S. 105. Deutsche Übersetzung in: Uwe M. Schneede, Joseph Beuys. Die Aktionen, Ostfildern-Ruit 1994, S. 103. 

  8. Zu Beuysʼ Aussagen zur heilenden oder therapeutischen Funktion von Kunst vgl. beispielsweise: Joseph Beuys, Dia Art Foundation, New York 1987, S. 18, sowie „Auszüge aus einer Diskussion mit Joseph Beuys“, in: Axel Hinrich Murken, Beuys und die Medizin, Münster 1979, S. 152. Zur Bedeutung der Übernahme der Schamanenrolle durch Beuys als Versuch, eine Verbindung zwischen dem sichtbaren Bereich der Materie und der unsichtbaren Sphäre des Geistes herzustellen, vgl. Murken, S. 131 f.; „Joseph Beuys im Gespräch mit Caroline Tisdall, 1974“ in: Secret Block for a Secret Person in Ireland, Kunsthalle Tübingen, Tübingen 1988, S. 49, sowie Joseph Beuys.Schamane, Nürnberg 2008, S. 2.